„Schwächen werden über- und Stärken werden unterschätzt“

CHRISTIAN THIELE

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Sind Sie so richtig stolz auf das, was Sie gut können? Sollten Sie aber, sagt der US-Psychologe Ryan Niemiec, einer der führenden Experten bei der Erforschung von Stärken. Denn wenn Sie Ihre Stärken gut kennen und nutzen, helfen Sie sich selbst und anderen. Im Büro, in der Erziehung, in der Partnerschaft. Ich habe ihn interviewt.

Ryan, was sind Stärken? 
Ryan Niemiec:
 Wir können über viele verschiedene Arten von Stärken nachdenken: Wir können Stärken haben im Sinne von Talenten; Stärken, die Fähigkeiten sind; Stärken im Sinne von Interessen oder Leidenschaften im Leben, unsere Ressourcen. Und dann können wir ebenso Charakterstärken haben. 

Davon sprechen Sie ja in der Regel! Was genau meinen Sie mit Charakterstärken“?
Niemiec: Stützen des Charakters sind jene uns innewohnenden Teile unserer Persönlichkeit, die die besten sind. Sie tendieren zum Positiven und helfen uns, unser bestes Selbst richtig zum Ausdruck zu bringen. Sie sind Teil des Kerns unserer Identität. Man kann sich Stärken auch als Kapazitäten vorstellen, in einer gewissen Weise zu denken, in einer gewissen Weise zu fühlen und in einer gewissen Weise zu handeln. Mir geht es nicht um Fähigkeiten, zum Beispiel Aggressionsbewältigung oder die Art, wie wir uns präsentieren oder wie wir mit anderen kommunizieren, all das lässt sich ja entwickeln und trainieren. Diese Art von Stärken ist auch wichtig, aber mir geht es um die Charakterstärken. Sie sind das Herzstück unseres Seins, und sie helfen uns, allen anderen Stärken zum Vorschein kommen zu lassen. 

Was macht diese Charakterstärken so wichtig? Wie machen sie mein Leben und das anderer Menschen besser, wenn ich es hinbekomme sie besser zu kennen und häufiger einzusetzen?
Niemiec: Nun, diese Stärken helfen uns auf vielerlei unterschiedlicher Weisen. Die Forschung zeigt, dass sie uns helfen ein erfüllteres Leben zu führen, aufzublühen. Sie helfen uns, belastbarer zu werden, stärkere Beziehungen aufzubauen, mehr Sinn und Zweck im Leben zu sehen. Da gibt es viele verschiedene Auswirkungen. Wenn wir unsere besten Qualitäten kennen und sie mehr in unserer Arbeit und in der Familie und in sämtlichen anderen Beziehungen zu anderen anwenden, dann sind wir noch mehr wir selbst; quasi eine bessere, authentischere Version von unserem Selbst.

Wenn ich mir meiner Stärken mehr bewusst bin, ist das nicht egoistisch oder arrogant?
Niemiec: Durchaus nicht. Das Egoistische oder Narzisstische könnte eher mit dem Gegenteil zu tun haben, also wenn jemand nicht im Einklang ist mit seinem Charakter oder mit dem Kern seiner Charakterstärken. So kann ich meine Neugier nutzen, um meiner Familie wirkungsvolle Fragen zu stellen um ihnen zu helfen, das Beste aus ihrem Tag herauszuholen, sich selbst auszudrücken. Ich kann meine Stärken hinsichtlich Liebe oder Fairness oder Versöhnlichkeit/Vergebung auf andere Menschen richten. Das hat in dem Sinne sehr viel mit Gemeinschaft zu tun und sehr viel mit Beziehungsaufbau, mit dem Bau stärkerer Gemeinschaften. Aber leider tun sich viele mit ihren eigenen Stärken noch schwer, sehen sie gar nicht oder kaum.

Woher kommt diese Stärkenblindheit?
Niemiec: Dafür kann es unterschiedliche Gründe geben. Wir hatten vielleicht nie Menschen in unserem Umfeld, die diese Stärken in uns bemerkt haben. Oder wir hatten nie Menschen um uns herum, die tatsächlich die Wichtigkeit von Hoffnung, von Dankbarkeit oder Humor, von Wertschätzung oder Schönheit oder Selbstbeherrschung verstärkt haben. Wir wurden diese Dinge nie gelehrt, weder in der Schule oder noch durch die Eltern. Aber das ändert sich langsam. Die Instrumente der positiven Psychologie werden immer bekannter, damit wächst ein echtes Stärkungsmittel in unserer Kultur heran. Und ein wichtiges Element dabei sind die Stärken.

Führen Stärken denn immer automatisch zum Guten, Wahren, Richtigen?
Niemiec: Nein, natürlich können wir unsere Charakterstärken für die falschen Zwecke einsetzen. Oder Sie können Ihre Stärken überbeanspruchen, und dann würden Sie möglicherweise als egoistisch erscheinen. Oder dass Sie Ihre Stärken unterbeanspruchen, dass Sie Ihre Demut/Bescheidenheit unterbeanspruchen. Dann erscheinen Sie möglicherweise als egoistisch. Oder wenn Sie Ihren Mut überbeanspruchen und andere ausnutzen für Ihre eigenen Zwecke, dann könnte das ein Überbeanspruchen von Mut sein. Wenn Sie also Ihre Charakterstärken in einer ausgeglichenen Weise ausleben, dann geht es nicht um Egoismus, dann geht es darum, ein stabileres Leben für sich selbst und andere zu gestalten.

Was ist der Unterschied zwischen Über- und Unterbeanspruchung von Stärken und Schwächen?
Niemiec: Nun, alle diese 24 typischen Charakterstärken, zwischen denen wir unterscheiden (siehe Kasten), können quasi auf einem Kontinuum abgebildet werden. Und da wo die Goldene Mitte liegt, oder wo Konfuzius von Mitte und Maß spricht, da findet eine mittlere oder optimale Nutzung von Stärken statt. Und dann wiederum können wir jedwede unserer 24 Stärken über- oder unterbeanspruchen – abhängig von der jeweiligen Situation.

Ist eine überbeanspruchte Stärke nicht einfach eine Schwäche?
Niemiec: Nein, aus meiner Sicht kann das Wort Schwäche irreführend sein. Denn Ihre unter- oder überbeanspruchte Stärke in einem Moment könnte in einer anderen Situation ganz richtig und hilfreich sein! Es verändert den Fokus, wenn man hier von Schwächen spricht! Wenn ich etwa sage, dass ich meine Neugier oder meine Kreativität oder meine Teamwork-Fähigkeit in einer Besprechung unterbeansprucht habe, dann gibt mir das eine andere Perspektive als wenn ich von „Schwächen“ spreche. Die Lösung ist dann nämlich ganz einfach: Ich muss nur meine Teamwork-Fähigkeit ein bisschen mehr nutzen in dieser Situation. Das ist etwas ganz anderes als zu sagen und zu denken, hey Ryan, da bist du richtig schwach.

Ist es komplett falsch, von „Schwächen“ zu sprechen?  
Niemiec: Nein, es ist nicht falsch, das Wort Schwäche zu benutzen. Aber es ist eine andere Kategorie und es verändert das Gespräch. Es wird schlechter aufgenommen bei den Menschen. Sie gehen in Abwehrhaltung und dann geht das Gespräch in eine andere Richtung.

Gene, Erziehung, meine eigenen Entscheidungen: Was hat welchen Einfluss auf meine Stärken?
Niemiec: Alle Dinge, die Sie genannt haben, sind wichtig. Die Wissenschaft ist noch nicht fortgeschritten genug, um uns irgendwelche Prozentzahlen von alldem zu zu liefern. Eines ist aber klar: Unser Charakter verändert sich, wir können unsere Stärken entwickeln. Das ist etwas Neues, das wir vor – sagen wir 10, 15 Jahren nicht wussten. Wir dachten, unsere Persönlichkeit bliebe felsenfest über die Jahrzehnte. Aber wir können darauf Einfluss nehmen. Und wir wissen, dass verschiedene Umweltfaktoren eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Veränderung unserer Lebensrollen.

Was meinen Sie damit?
Niemiec: Wenn jemand heiratet oder Kinder bekommt, wenn jemand zum Militär geht, dann sind ziemlich große Veränderungen unserer Lebensrollen, so etwas kann Auswirkungen auf unsere Persönlichkeit haben, auf unsere Charakterstärken. Auch traumatische Ereignisse haben Auswirkungen auf unseren Charakter. Solche Dinge können uns helfen, unsere Charakterstärken zu verbessern und wir wachsen daran – oder es kann manche Menschen zerstören. Und wir wissen auch, dass absichtliche Eingriffe, also das Festigen von Dankbarkeit oder von mehr Hoffnung im Leben, Führungskräften dabei helfen kann, nachweisbar mehr aus ihrem Team herauszuholen. Denn die Vorbildfunktion ist für uns Menschen sehr wichtig, wir lernen enorm viel durch das Beobachten von Vorbildern, die besonders viel Hoffnung, Liebe, Freundlichkeit, Selbstbeherrschung, Umsichtigkeit oder Versöhnlichkeit zum Ausdruck bringen.

Wo wir gerade über Vorbilder sprechen und über das Lernen durch Nachahmung: Wie verbessere ich die Stärken meines Kindes, ohne seine Schwächen zu vernachlässigen?
Niemiec: Wissen Sie, ich bin Vater dreier Kinder, und ich stelle immer wieder fest, dass wir Eltern stark darauf gepolt sind, in unseren Kindern darauf zu schauen, was falsch läuft

Eine typische elterliche Schwäche?
Niemiec: Nein, ich würde eher sagen, dass dies eine großartige Qualität ist. Wir sind nämlich in der Lage, Unstimmigkeiten in unserer Umwelt zu sehen, wir sind imstande Gefahren zu erkennen, wir können negative Dinge sehen, Schwächen und Probleme kilometerweit ausmachen. Oh, er macht sich nicht allzu gut auf dem Fußballfeld, oh, er kriegt nicht nur Einser, oh, es sieht aus, als ob er sich musikalisch nicht so entwickelt wie ich oder wie das Nachbarkind. Wir sind also imstande diese Dinge sehr gut zu erkennen, und wir werden darauf reagieren – mit welchem Ansatz auch immer.

Ist das jetzt gut oder schlecht?
Niemiec: Die Frage ist, können wir neben den Schwächen auch die besten Qualitäten in unseren Kindern sehen? Sie erkennen, wenn Ihr Kind ein Mut beweisen hat in einer schwierigen Situation einem  Lehrer. Sie bemerken die Teamwork-Fähigkeit Ihres Kindes, wenn Sie mit Freunden auf dem Spielplatzsind. Und wenn wir das erkennen – sagen wir das unserem Kind oder dem Nachbarkind? Können wir das verstärken, um es sozusagen aufzubauen? Und das können die meisten von uns Eltern verbessern. Denn es gibt immer mehr Studien zur Kindererziehung, die besagten, dass das Bewusstsein für Stärken und deren Nutzung sehr wichtig sind in der Kindererziehung.

Lassen Sie uns über den Einsatz von Stärken im Beruf sprechen! Wie kann ich als Führungsperson meine eigenen Stärken ausbauen – und wie helfe ich meinen Mitarbeitern, ihre Stärken zu entwickeln?
Niemiec: Beides hängt miteinander zusammen, denn beides beginnt mit Selbsterkenntnis. Ich könnte zum Beispiel den Via-Stärkentest machen und dabei meiner Hauptstärken erforschen. Und der Frage nachgehen: Wie nutze ich diese meine fünf oder sieben Hauptstärken als Führungskraft in meinem Büroalltag? Wie kann ich mich mit ihnen noch besser verbinden und sicherstellen, dass ich sie täglich in meinen Führungsstil nutze? Wer das tut, ist als Führungskraft schon mal viel klüger, authentischer.

Das ist Schritt eins... 
Niemiec: Genau. Und dann könnten Sie Ihre Mitarbeiter dazu anhalten, dass auch jeder einzelne den Via-Test macht, um die eigenen größten Stärken zu identifizieren Und zwar nicht nur zu erkennen, sondern auch zu verstehen, warum sie wichtig sind, warum sie Ihr Team stärken, warum sie dabei helfen, bestimmte Dinge besonders gut zu machen! Und das könnte dann auch ein Teil des Mitarbeitergespräches sein. Sie als Leitungsperson können zum Beispiel mit Ihren Mitarbeitern darüber ins Gespräch kommen, wie sie in der E-Mail-Kommunikation, beim Organisieren von Meetings oder bei was auch immer deren Fähigkeiten stärker ausleben können. Und wir wissen aus verschiedenen Forschungsergebnissen, dass diese Form von Unterstützung durch den Vorgesetzten enorme Auswirkungen hat auf die Performance und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter! Kennt der Vorgesetzte die Charakterstärken seiner Untergebenen, fühlen diese sich unterstützt und wertgeschätzt.

Ryan, an den Forscher in Ihnen gefragt: Was werden wir in zehn Jahren über Stärken wissen, was wir jetzt noch nicht wissen?
Niemiec: Da die Forschung in diesem Bereich noch relativ jung ist, gibt es mehr Dinge, die wir nicht wissen als Dinge, die wir wissen. Uns fehlen zum Beispiel noch Erkenntnisse darüber, wie sich Charakterstärken miteinander verbinden. Wir bringen ja niemals nur eine Stärke zum Ausdruck, so wie Sie und ich gerade über Arbeit sprachen: Wir beide brachten da unsere Neugier ein, unsere Führungserfahrung, unseren Einsatz zum Ausdruck, in vielen Situationen sind viele Stärken gleichzeitig im Spiel. Aber gibt es Stärken, die aneinander gekoppelt sind, die mit bestimmten Stärken besser harmonieren als mit anderen, oder mit gewissen Stärken sogar kollidieren – das müssen wir noch herausfinden. Dazu wird es in den kommenden Jahren viele Studien geben. Eine ganz andere Frage ist die Makroebene.

Was meinen Sie damit?
Niemiec: Es gibt zum Beispiel erste Schulen, die die  Charakterstärken ihrer Schüler zu stärken versuchen. IBM in Australien arbeitet in eine ähnliche Richtung, ich weiß noch von einer großen Physiotherapieeinrichtung in den USA, die allesamt mit Stärken arbeiten. Wie beeinflussen sich Charakterstärken auf so einer größeren ebene? Oder könnte man mit den Charakterstärken tief und systematisch über eine ganze Stadt verbreitet arbeiten? Oder gar ein ganzes Land? Welche Stärke das dieser Stadt bringen würde, um Probleme bewältigen zu können, um Gewalttaten vorzubeugen, um – pathetisch gesprochen – die Macht des Guten in der Welt zu fördern?Ich weiß nicht, ob wir auf diese Fragen schon in zehn Jahren antworten können. Vielleicht braucht es noch 20 oder 30 Jahre.

Eine letzte Frage, Ryan, oder genauer gesagt zwei Fragen in einer: Sie haben Ihren Arbeitstag mehr oder weniger zur Hälfte geschafft, es ist fast zwei Uhr nachmittags. Von welchen Ihrer Stärken haben Sie heute bereits Gebrauch gemacht? Und welche Stärken werden Sie in der zweiten Tageshälfte nutzen?
Niemiec: Puh, nehmen wir zum Beispiel dieses Interview: Sie haben mich vor ein paar Herausforderungen gestellt, auf einige Fragen konnte ich leicht antworten, auf andere nicht. Die Charakterstärke, die ich also hier besonders nutzen musste, war mein kritisches Urteilsvermögen. So dass ich tatsächlich Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und ins Detail gehen musste. Sie haben mich dabei unterstützt. Danke!

Bitte, gern geschehen...
Niemiec: Und welche Stärke werde ich noch nutzen? Ich treffe jetzt gleich eine ehemalige Mitarbeiterin und inzwischen gute Freundin. Ich werde dabei wohl meine Hauptstärken nutzen, und zwar Liebe im Sinne von Wärme und Echtheit. Aber ich werde auch neugierig sein, ihr mit einer Art Offenheit gegenübertreten, um zu sehen, welche Ideen sie hat und wie sie sich eine Zusammenarbeit vorstellt. Welche Stärke haben Sie denn in diesem Interview einsetzen können?

Äh, da muss ich nachdenken... Nun, ich musste mein Aufnahmegerät, das zunächst nicht funktionierte, zum Laufen bringen und mich dabei nicht aus der Ruhe bringen lassen. Dann ist es auch immer eine gewisse Herausforderung für mich, ein Gespräch auf Englisch zu führen, weil ich gerne präziser fragen und mehr auf den Punkt kommen würde. Aber eine meiner Stärken ist ein gewisser Pragmatismus im Sinne von: „Er wird schon so ungefähr verstehen was ich ihn fragen will...“
Niemiec: Also eine gewisse Selbstbeherrschung, ja, das habe ich bemerkt. Und ich fand, Sie haben das sehr präzise auf den Punkt gebracht, das ist eine Ihrer Stärken, die Sie sicher gut in vielen Situationen einsetzen können. Manchmal erklären mir Journalisten in einem Interview fünf Minuten ein Beispiel – davon waren Sie weit entfernt.

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Christian Thiele

ÜBER DEN AUTOR

Mehr Leistung, Freude, Gesundheit und Sinn, mit den Methoden der Positive Leadership: Darum geht es mir in meiner Arbeit als Coach, Trainer, Teamentwickler und Vortragsredner. Für Führungskräfte, Teams und Organisationen. Verliebt, verlobt und bald verheiratet mit Christiane. Vater. Skitourengeher.

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