Ich kann es nicht weniger pathetisch sagen: Vor Viktor Frankl (eigentlich: Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Viktor Frankl, denn er hatte soooo viele Ehrendoktorhüte…), vor seiner Lebensgeschichte, vor seiner Lebensphilosophie habe ich allerallergrößten Respekt. Vor 25 Jahren, am 2.9.1997, ist er mit 92 Jahren gestorben, ich finde, an ihn gehört erinnert. Gerade in diesen unabsehbaren, komplizierten Zeiten sollte er gelesen und gedacht werden, gerade von Führungskräften. Wieso ich das finde, wird hoffentlich an folgenden inspirierenden Zitaten klar:
„Es liegt im Wesen des Menschen, dass er nach Sinn fragt“
Sigmund Freud, der Begründer der modernen Psychologie, schreibt in einem Brief an eine Freundin: „Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank.“ Das sieht Viktor Frankl, Wiener Neurologe, Psychiater und Philosoph, ganz anders. Für ihn ist der Mensch ein zum Sinn begabtes, zum Sinn verpflichtetes und zum Sinn strebendes Wesen. Darauf baut auch die von ihm begründete Logotherapie, eine Art Sinn-Lehre gegen die Sinn-Leere, auf. Unter welchen Umständen Frankl sich seinen Glauben an die Sinnhaftigkeit menschlichen Seins und Tuns bewahrt hat, finde ich immer wieder atemberaubend. Dazu gleich mehr.
„Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“
Dass kein Purpose-Statement oder kein Mission Briefing dieser Welt von außen Sinn in einen Menschen oder gar ein Team von Menschen hineininjizieren kann, etwa durch eine Führungskraft, das wusste Frankl natürlich längst. Sinn im Leben finden, dafür gab es bei Frankl drei unterschiedliche Arten von Quellen, die aber jedeR für sich selbst zu erkunden hat:
- durch das Schaffen von Taten oder das Schöpfen von Werken
- durch das Erleben, die Begegnung mit Wissenschaft, Kunst, Musik etc.
- oder durch die Haltung, die wir gegenüber unvermeidbarem Leid einnehmen können
Auch in die vermeintlich sinnlosesten, schwierigsten Umstände können wir also Bedeutung, Sinn, Zweck hineindeuten. Als Jude, den die Nationalsozialisten zur Häftlingsnummer 119104 gemacht, dem sie die Höllenqualen vier unterschiedlicher Konzentrationslager aufgebürdet und dem sie seine ganze Verwandschaft geraubt haben, wusste Frankl wie kaum ein anderer, wovon er da sprach. Nietzsches berühmtes und von Frankl oft zitiertes Wort „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“ steht im Zentrum seines Hauptwerkes „… trotzdem ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ (Kösel, München 2009), eine für mich immer wieder erstaunliche, kräftigende, Zuversicht spendende Lektüre.
„Der Mensch braucht Spannung“
Nur dem Menschen, der weiß, wozu er gut ist, geht es gut. Spannungsvermeidung, Instant-Happiness, ein bequemes Leben im Schongang – das sind alles Dinge, die für Frankl wider die menschliche Natur gehen. Als ängstlicher Gymnasiast stemmt er sich seiner Furcht vor der Höhe entgegen und entdeckt das Klettern für sich. Die Trotzmacht des Geistes, die Risikobereitschaft, die Konzentration, die Frustrationstoleranz und vieles mehr schult und entwickelt Frankl beim Bergsteigen. Er erwirbt sogar das Bergführerabzeichen, das er wundersam durch die KZ-Jahre hindurch retten und stolz bei sich tragen wird, er wird in den dunkelsten Zeiten des Fleckfiebers Touren an der heimatlichen Rax im Geiste nachklettern - und so sich selbst am Leben halten. Schließlich, so Frankl lapidar, „muss man sich ja nicht alles von sich gefallen lassen“… Wer sich für den Alpinisten Frankl interessiert, lese das großartige Buch „Berg und Sinn. Im Nachstieg von Viktor Frankl“ von Klaus Haselböck und Michael Holzer.
„Umso mehr es einem um die Lust geht, desto mehr vergeht sie einem“
Der Wortwitz, der Charme Frankls leuchtet in seinen Schriften, vor allem aber in seinen Reden und Vorträgen auf (bequem abrufbar über Youtube etc. oder nachlesbar in seiner Vortragssammlung „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“) Frankl hat den Humor ernst genommen, als Coping-Strategie, wie wir heute sagen würden, aber auch als Mittel der Therapeutischen Arbeit. Eine Patientin zitiert er mit den Worten: „Wissen S’, Herr Doktor, i’ bin willensfrei, wann i’ will, und wann i’ net will, bin i’ net willensfrei.“ Dem Leben ins Gesicht lachen oder zumindest schmunzeln, auch und gerade wenn es rundherum gerade nicht sooo viel zu Lachen gibt, auch das lässt sich von Frankl lernen.
„Das Tier weiß, was es muss, der Mensch wusste, was er soll“
Die Positive Psychologie, also die Wissenschaft vom gelingenden Leben, hat Frankl erst auf Umwegen für sich entdeckt. Vielleicht auch weil für Frankl das Glück gar nicht im Zentrum menschlicher Existenz steht oder stehen soll - Schmerz, Trauer, Leid sind für ihn unvermeindlich. Aber wer die eigenen Gaben als Aufgaben sieht, wer sich im Sinne der „Selbsttranszendenz“ in den Dienst einer Sache oder einer Person stellt, wer eben nicht wie das Tier seinen Instinkten folgt oder wie der vormoderne Mensch den gesellschaftlichen Zwängen und Traditionen, die oder der ist das, was Menschen sein können. Dabei ist Freiheit für Frankl nur die eine Seite der Medaille gelungenen Menschseins – Verantwortung ist die notwendige andere.
„Die Welt ist nicht heil, aber sie ist heilbar“
Aus Frankl spricht kein blinder Optimismus, aber doch immer eine solide, manchmal spöttische, manchmal pathetische Zuversicht. Und die können wir in diesen Zeiten des Umbruchs nach meinem Dafürhalten ganz gut brauchen. Die Freiheit, uns zu den Umständen zu verhalten, egal wie scheußlich sie sein mögen, die kann uns nichts und niemand nehmen. Ich will daher mit den Worten des großen Wieners, Juden, Weltbürgers, ach was: des Menschen Viktor Frankl schließen: „Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist - aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.“
P.S.: Ihr macht/Sie machen das gut!