Liebe Positiv Führenden,
Geier Sturzflug ist, wie so vieles aus den achtziger Jahren, überholt. „Ja, ja, ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“, sang die Bochumer Band 1982 und dominierte damit 22 Wochen lang die Hitparade.
Die Hitparade gibt es so nicht mehr.
Und das Bruttosozialprodukt wird immer irrelevanter.
Seit das kleine südasiatische Königreich Bhutan systematisch das Bruttonationalglück zum Leitstern der eigenen Wirtschafts- und Sozialpolitik macht, orientieren sich WissenschaftlerInnen, Regierungen, NGOs weltweit an diesem Maßindex, um bessere Indikatoren für menschliches Wohlbefinden als das Bruttosozialprodukt zu finden und zu fördern.
Und weil wir inzwischen zählen und messen können,
- wie viele Bäume es in der Sahara gibt,
- wie viele Touristen jährlich Schloss Neuschwanstein besuchen,
- wie viel Wasser auf dem Mars noch übrig ist,
können wir auch recht gut und zuverlässig messen, wie glücklich die Welt ist.
Seit zehn Jahren wird jährlich zum Weltglückstag am 20. März unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen der World Happiness Report vorgestellt, beteiligt an der Erhebung und Aufbereitung der Daten sind der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs und weitere Forschende aus der Crême de la Crême der internationalen Wirtschafts-, Entwicklungs- und Glücksforschung.
Ich habe mich durch die aktuelle Ausgabe des Berichts durchgefräst und liste hier mal die 7 Dinge auf, die ich persönlich besonders berichtenswert finde.
Krise bringt das beste in Menschen hervor
Schlechte Zeiten bringen nicht, wie so häufig behauptet, den Unmenschen im Menschen hervor, oder zumindest nicht überwiegend. Darüber hat Rutger Bregman mit „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“ einen sehr lesenswerten Bestseller geschrieben – und das belegen auch die Zahlen aus dem neuen Weltglücksreport: In jeder Weltregion ist im vergangenen Jahr die Zahl jener Menschen deutlich angestiegen, die für wohltätige Zwecke spenden, die Fremden helfen, die sich in der Freiwilligenarbeit engagieren. Wir sind Sozialtiere. Wenn es anderen Menchen schlecht geht, helfen wir einander! Und wenn wir sehen, wie andere anderen helfen, inspiriert uns das, selbst aktiv zu werden!
Das Interesse an Glück wird größer
Was würden Sie schätzen: Pro 1 Million gedruckter Wörter, wie oft taucht das Wort „Happiness“ auf? 25 Mal, haben die Forschenden für den aktuellen Weltglücksbericht durch Untersuchungen in Google Books herausgefunden. Generell ist demzufolge in den letzten zehn Jahren das Interesse am „Bruttosozialprodukt“ und ähnlichen Begriffen gesunken. Untersuchungen in Büchern, in der wissenschaftlichen Literatur, in Regierungsdokumenten zeigen hingegen, dass in unterschiedlichen Sprachen dagegen das Interesse an Wohlbefinden, Glück und ähnlichen Indikatoren menschlicher Entwicklung steigt.
Mit Glück wird Politik gemacht
Fast alle Mitgliedsländer der OECD messen inzwischen jährlich das Glück ihrer Bevölkerung. Neuseeland, Großbritannien und Bhutan sind die Länder, die schon am weitesten sind in ihren Glücks-Politiken: Dort wird die Messung des Wohlbefindens für die Nachverfolgung, Priorisierung und zur Entscheidungsfindung von politischen Entscheidungen an zentraler Stelle und systematisch eingesetzt. Auch lässt sich feststellen, dass die Begrifflichkeiten und Konzepte, mit denen Wohlbefinden als politische Kategorie eingeführt und verfolgt wird, sich immer nuancierter und stärker an den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten.
Ich vermute daher, dass die systematische Mehrung von Glück und Wohlbefinden sowohl für politische Parteien in ihren Wahlkämpfen als auch für Unternehmen zur Anwerbung und Bindung von Beschäftigten immer wichtiger sein werden.
Corona hat uns ängstlicher und trauriger gemacht
Haben Sie gestern Freude, Interesse, Lachen und andere positive Emotionen erlebt? Im Durchschnitt berichten Menschen auf diese Frage über rund doppelt so viele positive Emotionen wie über Stress, Sorge, Ärger und andere negative Emotionen. Auch haben sich die durchschnittlichen Bewertungen der eigenen Lebensumstände trotz Krise und Corona im vergangenen Jahr weltweit nicht dramatisch verändert im Vergleich zu den Vorjahren.
Wie Sie vielleicht den Zeitungs-Meldungen der letzten Tage schon entnehmen konnten, wird die Rangliste der glücklichsten Länder mit der höchsten Lebenszufriedenheit wiedermal von Nord-/Mitteleuropa angeführt: Finnland, Dänemark, Island, die Niederlande, Luxemburg, Schweden und Norwegen führen das Ranking der glücklichsten Länder an, nur die Schweiz hat sich auf Platz vier dazwischen geschoben – und Deutschland liegt auf Platz 14. Allerdings ist die individuelle Bandbreite des Wohlbefindens in den meisten Ländern größer als die Unterschiede zwischen den Staaten.
Sorge und Trauer sind 2020/21 in vielen Ländern angestiegen auf Werte, die nicht dramatisch, aber merklich höher sind vor Beginn der Pandemie (ca. 3 Prozent Anstieg). In den Ländern des Nahen Ostens wird mehr Wut empfunden als anderswo auf der Welt, in allen Ländern der Welt wird das Leben als stressiger wahrgenommen als noch vor zehn Jahren. Generell hat sich aber diesen Daten zufolge das Wut-Empfinden nicht signifikant erhöht.
Ich finde das eine wichtige Botschaft für Unternehmen und die Politik – die Wut-Bürger mit ihren Botschaften des Hasses sind also demzufolge eine laute, aber kleine Minderheit. Sie sollten natürlich ernst genommen werden – aber für Behauptungen, sie verträten die „schweigende Mehrheit“ der Bevölkerung, gibt es keinen Anhaltspunkt. Gleichzeitig scheint die Covid-Pandemie den Einfluss von Einkommen auf die Lebenszufriedenheit gemindert zu haben. Es ist den Menschen offenbar nochmals wichtiger geworden zu sein, andere Menschen zu haben, auf die sie in schwieriger Zeit bauen können, als ein größeres Haus oder ein leistungsstärkeres Auto zu haben als die Nachbarn.
Das aufregende Leben wird überschätzt
Begeisterung, Freude, Überraschung: Gerade die westliche Glücksforschung hat lange Zeit die Bedeutung dieser so genannten positiven „high arousal“-Emotionen für unser Wohlbefinden überschätzt. Stille, Ausgeglichenheit, Harmonie und andere mildere positive Emotionen tragen enorm zu unserem Wohlbefinden bei. Schon Aristoteles schrieb über das Prinzip des „goldenen Maßes“ – Ausgeglichenheit und Harmonie sind also keineswegs ein irgendwie „östliches“ Ideal, die „Work-Life-Balance“ oder das Streben nach ausgeglichener Ernährung verfolgen wir im Westen ja schließlich genauso.
Die Daten im Weltglücksreport belegen demnach auch: Die Mehrheit der Befragten (74,3 Prozent) in fast allen Ländern zieht ein ruhigeres Leben einem aufregenden Leben vor – vor allem ist das in ärmeren Ländern der Fall. Ausgeglichenheit heißt dabei übrigens keinesfalls immer ein Durchschnitt oder ein Mittelmaß oder „genau die Hälfte“ – es muss eben das „richtige“ Maß sein, das für jede und jeden wo anders liegen mag. Auch muss Balance nicht zwingend immer synchron hergestellt werden, wie der Wasserhahn auf das „rechte Maß“ zwischen Heiß und Kalt positioniert wird – Ausgeglichenheit kann auch diachron erfolgen, etwa über eine Work-Life-Balance im Monats- oder Jahresverlauf. Ältere, Verheiratete, Gesunde und Menschen mit intensiven Freundschaften berichten überdurchschnittlich oft davon, dass sie Ausgeglichenheit erleben. Aber Harmonie und Ausgeglichenheit sind für alle Menschen bedeutsam, wir alle suchen, erleben und schätzen sie als Teil gelingenden Lebens.
Wir sollten uns also bewusst machen, dass das, was ich gerne das „Pulverschnee-Glück“ nenne, also die sehr starken sehr positiven Momente von Glück, nur ein Aspekt von Wohlbefinden sind. Und dass alles, was zu unserer Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Ruhe und Harmonie beiträgt, mindestens genauso wichtig ist – egal ob für Einzelne, in Familien, im Unternehmen oder in der Politik.
DAS Glücks-Gen gibt es nicht
Sind wir des eigenen Glückes Schmied, wie das Sprichwort behauptet? Nicht ganz. Ihr Glück und Ihre Fähigkeit dazu ist Ihnen zu einem beträchtlichen Teil in die Wiege gelegt worden – oder eben nicht. Die Forschung lernt immer mehr über die so genannten Biomarker des Glücks. Unterschiedliche Gen-Studien an ein- und zweieiigen Zwillingen und in Familien legen nahe, dass rund 40 Prozent der Differenzen im Glücksempfinden zwischen Menschen durch genetische Unterschiede bedingt sind. Der Großteil der Varianz lässt sich über Umwelteinflüsse und eigenes Handeln erklären. Manchen Menschen fällt es also von ihrer Natur her leichter, Glück zu empfinden, andere tun sich schwerer damit.
Allerdings gibt es natürlich auch ein Zusammenspiel zwischen Umwelt, Verhalten und Veranlagung – so wie eben auch manche Menschen schneller Sonnenbrand bekommen und andere einen robusteren Teint haben, der im Freibad nicht ganz so schnell nachgeschmiert werden muss. Ein einzelnes „Glücks-Gen“ ist daher bislang weder gefunden worden noch ist damit zu rechnen, dass die Wissenschaft ein solches irgendwann identifizieren wird. Denn jede einzelne genetische Variante, die mit Unterschieden im Wohlbefinden korreliert, erklärt nur einen kleinen Teil davon Die Struktur und die Funktion unseres Gehirns ist, dazu gibt es immer mehr und immer präzisere Forschung, ein Schlüsselfaktor mit großem Einfluss auf menschliche Stimmungen und deren Regulation. Auch Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin stehen in Zusammenhang mit gemessenem Wohlbefinden – genauso wie der Blutspiegel des Cortisol-Hormons oder Entzündungsmarker in unserem Immunsystem.
Das heißt aus meiner Sicht unter anderem, dass die Politik, Unternehmen und auch BeraterInnen, Coaches etc. in ihren Vorschlägen für mehr Glück und Wohlbefinden einerseits das Augenmerk richten sollten auf strukturelle Ungerechtigkeiten, gesunde Lebensstandards, bedeutsame und inklusive Arbeit – Faktoren, die allen Menschen gut tun. Und dass wir gleichzeitig mehr Rücksicht nehmen müssen auf individuelle Unterschiede und Präferenzen. So wie von Sport und Bewegung zwar grundsätzlich alle Menschen profitieren – aber ob einzeln oder in der Gruppe, drinnen oder draußen, zu festen Zeiten oder je nachdem, das wird immer unterschiedlich sein. Ownership und Teilhabe, die Menschen die Mitwirkung am Design von Glücksinterventionen und -politiken ermöglichen: in die Richtung sollte es gehen!
Vertrauen macht glücklich
Menschen, die in Ländern mit hohem sozialen und institutionellem Vertrauen leben – also etwa die nordeuropäischen Staaten –, sind glücklicher als die in wenig vertrauensvoller und vertrauenswürdiger Umgebung. Vor allem gilt das für Menschen mit schlechter Gesundheit und niedrigem Einkommen. Ähnliche Ergebnisse haben sich schon nach der Finanzkrise 2007-08 oder nach Tsnunamis, Erdbeben, Flutkatastrophen gezeigt: Wo Vertrauen in das soziale Miteinander und in die öffentlichen Institutionen herrscht, ist die Widerstandsfähigkeit und Resilienz gegenüber nationalen und persönlichen Krisen größer.
Für mich heißt das unter anderem: Die Menschen wollen keinen schlanken oder entbürokratisierten Staat, wie das so häufig behauptet worden ist in den letzten 20, 30 Jahren – sie wollen einen funktionierenden, leistungsstarken, gerechten Staat und eine solidarische Gemeinschaft. Ob und inwiefern die zwei Jahre der Pandemie das Vertrauen und Wohlwollen beschädigt haben, dazu braucht es allerdings noch Forschung in nächster Zeit.
Wer mehr über die einzelnen Zahlen und deren Operationalisierung wissen will – am besten reinschauen in den Bericht (https://worldhappiness.report/ed/2022/) oder in die Präsentation des selben mit Jeffrey Sachs himself und anderen beteiligten Forschenden (https://youtu.be/B8fejAwQivg). Und wer das nächste Mal Geier Sturzflug hört, denken Sie dran: Für das Bruttoglücksprodukt in die Hände zu spucken, lohnt sich mindestens genauso wie für das Bruttosozialprodukt!
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Mit positiven Grüßen aus Garmisch-Partenkirchen
Christian Thiele
P.S.: Sie machen das gut!