„Ich bin eher so der introvertierte Typ – kann ich damit überhaupt eine gute Führungskraft sein?“ Mit dieser Frage werde ich immer wieder konfrontiert, in meinen Coachings und Trainings.
Um’s gleich vorwegzunehmen: Ja!
Wer’s genauer wissen will – und das wollen die meisten Introvertierten: Hier einige Anregungen für jene Führungskräfte, die nicht soooo gesellig sind, die sich als eher in sich gekehrt erleben.
Allein unter Rampensäuen...
Es gibt Studien, wonach zwei Drittel der Führungskräfte Introversion als ein Hindernis zu wahrer Führung sehen. Das ist kein Wunder, schließlich sind die meisten von ihnen selbst eher charismatisch und outgoing (https://hbr.org/2010/12/the-hidden-advantages-of-quiet-bosses) – oder sehen sich zumindest so (https://www.inc.com/peter-economy/this-study-of-300000-businesspeople-revealed-top-10-leader-traits-for-success.html). Die reserviertere Führungskraft muss sich also darauf gefasst machen, dass sie unter KollegInnen häufig in der Minderheit ist – und von vielen gleichrangigen Haudraufs als Sonderling wahrgenommen werden könnte. Allerdings hängt das sicher vom Kontext ab, in Wissenschaft, IT oder anderen sehr wissensorientierten Umfeldern ist die oder der Introvertierte bestimmt häufiger auch auf höheren Etagen vorzufinden als im Vertrieb oder in der Unterhaltungsbranche. Außerdem gibt es einige nicht ganz unbekannte Führungspersönlichkeiten, die sich als eher zurückhaltend bezeichnen – unter anderem die Tech-Größen Bill Gates, Marissa Mayer, Jeff Bezos.
Wie erkennen?
Introvertierte…
- erscheinen eher unabhängig
- wirken höflich, still, reserviert – oder auch schüchtern
- ziehen ihre Energie eher aus dem Innen als dem Außen
- kommen dann in ihre Kraft, wenn sie es mit Ideen zu tun haben, die sie faszinieren
- arbeiten eher alleine oder im kleinen Kreis als in der großen Runde
- denken mehr, bevor sie reden
- pflegen eher wenige, intensive (Arbeits-)Beziehungen als viele lockere Kontakte
- hören und kommunizieren stark auf dem Sachohr, sind gut im Vermitteln und Behalten von Zahlen, Daten, Fakten
Natürlich ist in der Regel niemand NUR und REIN introvertiert oder extrovertiert – die meisten Menschen liegen irgendwo zwischen zwei Polen.
Vorteile und Stärken
Häufige Stärken von introvertierteren, zurückhaltenderen, stilleren Menschen:
- Zuverlässigkeit
- Zuhören können
- neue Ideen entwickeln
- effizient planen und organisieren
- lassen sich selten aus der Ruhe bringen
- beobachten viel, bekommen auch Details mit
- arbeiten weniger für die Galerie, sondern leisten still ihren Beitrag zum Ergebnis
- können andere Introvertierte unterstützen
- zerschlagen selten Porzellan in Auseinandersetzungen
Herausforderungen
Introvertierte
- sind zahlreichen Studien zufolge tendenziell etwas weniger glücklich als Extrovertierte. Das gilt übrigens auch für die Lockdowns zu Pandemie-Zeiten, die sie wohl nicht wirklich besser überstehen als Extrovertierte
- können leicht als wenig durchsetzungsstark oder sonstwie unterschätzt werden
- werden häufig auf den ersten Eindruck als distanziert, kühl oder gar arrogant wahrgenommen
- stehen ungern im Rampenlicht – auch dann, wenn das für ihr Team, ihre Abteilung, ihre Firma hilfreich oder notwendig ist
- tun sich möglicherweise schwerer damit, Visionen zu kommunzieren, Feuer zu entfachen – vor allem, wenn sie als Führungskraft mit lauter Charismatikern zu tun haben
Tipps
Hier ein paar Empfehlungen, falls Sie als Führungskraft eher auf der stilleren Seite der Dinge sind:
- Wissen Sie um Ihre Stärken als eher in sich gekehrte Führungskraft!
- Gönnen Sie sich, vor allem nach Meetings mit vielen Menschen, immer wieder stille Stunden – Sie brauchen nach dem Bad in der Menge kein Bad in der Menge wie etwa die extrovertierte CharismatikerIn!
- Seien Sie Sie: Versuchen Sie nicht, sich zu verbiegen, durch noch so viele Trainings oder Coachings wird keinE – glücklicheR – ExtrovertierteR aus Ihnen!
- Reflektieren Sie Ihr Äußeres: Wer als introvertiertere Führungskraft auf teure Uhren, schnelle Autos, schicke Kleidung und sonstige Statussymbole setzt – erst recht, wenn sie oder er dann auch noch überdurchschnittlich groß, sportlich, gutaussehend ist –, baut möglicherweise zusätzliche Distanz auf. Wollen Sie das wirklich?
- „Ich will mir dazu nochmal Gedanken machen“, „Ich sage dazu später was“ oder „Dazu möchte ich mir erstmal ein gründlicheres Bild machen“: Machen Sie Ihre Denkprozesse mit solchen oder ähnlichen Formulierungen immer mal wieder transparent, wenn Ihre Mitarbeitenden sich mal wieder fragen mögen: „Auf welchem Planeten ist sie/er eigentlich gerade?".
- Vertrauen Sie auf Ihre Beobachtungen: Sie sind mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit mindestens so schlau wie die derer, die sich immer als erste zu Wort melden – wenn nicht sogar viel schlauer!
- Vertrauen Sie auf Ihre Gedanken! Und notieren Sie Ideen, Einfälle, die Sie dann gelegentlich mit Menschen teilen, denen Sie vertrauen. Sie sind es nicht wert, vergessen zu werden!
Introvertierte als ExpertIn führen
Wenn Sie mit reservierteren Mitarbeitenden zu tun haben, gelingt Ihnen als IntrovertierR das in der Regel noch mal besser. Denn Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie man am besten in Verbindung geht, Anerkennung zollt etc. Ansonsten hier noch einige Anregung für das Führen von introvertierten Menschen:
- Zu lautes, öffentliches Lob kann eine echte Herausforderung, ein echter Stresstest für zurückhaltendere Menschen sein.
- Schriftliche, geplante Kommunikation kann ihnen leichter fallen als mündliche, da sie sich besser vorbereiten und abwägen können.
- Lassen Sie viel Freiraum für autonomes, individuelles Arbeiten.
- Setzen Sie immer wieder one-on-one-Besprechungen an – in Ergänzung oder als Alternative zu vielen Großgruppen-Meetings.
- "Claudia, wie siehst Du das aus Deiner Expertise...?" Fragen Sie wertschätzend nach der Meinung von Stilleren – ohne sie damit zu blamieren.
- Bringen Sie die Reservierten mit anderen Intros zusammen, wenn sich das ergibt.
- Tragen Sie besonders Sorge dafür, dass die Stilleren, Bedächtigeren nicht untergebuttert werden von den lauten, schnellen Rampensäuen!
- Achten Sie bei Teambuilding-Aktivitäten dafür, dass Fähigkeiten und Kompetenzen der Introvertierten immer wieder auch zum Tragen kommen – z.B. in ausgeklügelten Escape-Rooms.
Haben Sie eigene Erfahrungen oder noch weitere Ideen oder Anregungen? Ich freue mich auf Rückmeldung!
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Mit positiven Grüßen aus Garmisch-Partenkirchen
Christian Thiele
P.S.: Sie machen das gut!