Wie Corona-spät ist’s bei Dir? – Interview Dr. Marc Wittmann

CHRISTIAN THIELE

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Was macht eigentlich die Corona-Zeit mit uns? Dr. Marc Wittmann ist Zeitforscher, Psychologe – und Warteberater. Ich durfte ihn interviewen – dafür hatte er sich Zeit genommen...

Wie viel Zeit haben Sie für unser Gespräch, Herr Dr. Wittmann?

Wittmann: Ich habe mir eine gute Stunde dafür eingeplant.

Wann wäre dieses Interview denn zu kurz?

Äh, ich habe jetzt sonst keine Termine, schauen wir doch einfach, wie's läuft

Was müsste denn passieren, damit Ihnen im Gespräch langweilig wird?

Ja mei. Wenn wir da keine Resonanz miteinander finden, wenn wir irgendwie aneinander vorbeireden.

Und was würden Sie dann machen?

Sie würden es an meinem Gähnen merken. 

Was ist denn gut an Langeweile?

Die Langeweile sagt uns, wie alle Emotionen, die in unserem Motivations-System eingebaut sind, was wir tun sollen. Sie sind also Handlungsanweisungen. Also wenn ich es zu langweilig finde, dann drücke ich aufs Knöpfchen und wir haben keine Verbindung mehr.

Sie sind ja neben vielem ein Warteberater. Was macht der, so ein Warteberater?

Das war im Rahmen eines witzigen Performance-Künstler-Projektes von Armin Nagel (service-pionier.de). Die Menschen wurden dort mit Warten und Langeweile konfrontiert. 

 Wie kann ich mir das konkret vorstellen?

Mich als Warteberater konnte man anrufen – aber erstmal gab es diverse Warteschleifen, so nach dem Motto: "Drücken Sie die eins, wenn..." und "Drücken Sie die zwei, wenn". Auf einer der Opti0nen kam ich als Warteberater ins Spiel

 Was können Sie den Leuten so raten als Warteberater?

Nicht viel, das ist so ähnlich wie beim Psychotherapeuten. Der sitzt ja auch erst einmal da und wird nicht dirigieren, lässt den Klienten erzählen, was er denn will oder braucht.

 Und was wollten die Leute von Ihnen?

Sie wollen Auskunft zu Fragen wie: Wie vergeht die Zeit? Wie kommen wir zu unserem Gefühl von Zeit? Was ist Langeweile? Was hat Langeweile für einen Sinn? Oder aber sie haben tatsächlich Probleme, so à la: "Ich kann so schlecht warten. Was soll ich machen?" Und dann kommt man so ins Gespräch.

 Wie verändert denn nach Ihrer Wahrnehmung Covid unseren Umgang mit der Zeit.

Das hängt ja von verschiedenen Faktoren ab. Im Frühjahr haben es viele Menschen so erlebt, dass die Zeit unglaublich schnell vergeht. Denn jeder Tag ist gleich. Die Leute sind zu Hause im Home Office und Montag und Sonntag unterscheiden sich nicht mehr. Früher war Sonntag der Tag, wo man irgendwie radeln gegangen ist oder irgendwas mit der Familie gemacht hat. Montag war dann irgendein stressiger Arbeitstag. Oder man hatte feste Termine, Verabredungen. Ist zum Fußballspielen gegangen oder so. Das ist alles weggefallen. Jeder Tag ist gleich. Durch diese Monotonie, weil nichts Besonderes mehr im Gedächtnis abgespeichert wird, kommt einem rückblickend dann die Zeit schnell vergangen vor. Wer viel Abwechslungsreiches erlebt über die Tage hinweg, dessen subjektive Zeit dehnt sich im Nachhinein. 

 Gibt es dazu Studien?

Ja, unter anderem in Großbritannien, Frankreich, Italien. Da hat man wirklich Tausende von Menschen gefragt und das Ergebnis war: Die, die sich aufgehoben fühlten in einer guten sozialen Situation – weil sie in der Familie oder mit Freunden in der WG zusammenleben und zufrieden sind mit ihrem Umfeld – für die hat sich die Zeit quasi beschleunigt. Wer sehr unzufrieden war und wenig eingebunden, der empfand viel Langeweile. Das ist auch für Depressive oder Menschen mit Angststörungen so, dass für sie die Zeit langsamer vergeht.

Was ich immer wieder höre, dass Leute sagen, man wird jetzt zu Zeit gezwungen, mit der man gar nichts anfangen kann. Ist das für Sie auch so eine typische Corona-Erfahrung?

Das wäre eben im Sinne von Langeweile, dass man viel Leere und Zeit hat, weil die die normale Beschäftigung, der man sonst ausgesetzt, der Montagsstammtisch, Dienstag Yoga, mittwochs ich weiß nicht was, alles wegfällt.  Dann muss ich mir jeden Tag wieder selber definieren, was ich mache. Und es könnte damit vielleicht für viele, die es nicht so gewohnt sind, sich mit sich selbst zu beschäftigen, Probleme geben.

 Ich stand letzte Woche vor einem Apple Store nacheinander in zwei verschiedenen Schlangen, und es hat objektiv viel, viel länger gedauert, als ich das so gewohnt bin. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass alles viel ziviler als sonst zuging, die Leute viel entspannter mit dieser Wartezeit umgehen konnten als sonst. Liegt das an Corona? Oder bilde ich mir das ein?

Das war vielleicht so eine Art Fatalismus. Man ist es jetzt gewohnt. Ansonsten erwarten wir ja immer eher, dass die die Prozesse und Abläufe sehr schnell laufen. Wenn Sie bei Aldi an der Kasse stehen und die Schlange zu lang scheint, dann werden die Leute ja sehr schnell sehr nervös. 

Warum ist es so? Weil wir plötzlich auf uns selbst zurückgeworfen sind. Der Autopilot-Modus, ich kann – für ein paar Minuten – nicht weiter und ich bemerke mich selber – mit meiner eigenen Langeweile. Deswegen empfehle ich da immer eine paradoxe Intervention.

 Nämlich?

Gehen Sie in die lange Schlange und lernen Sie sich selbst auszuhalten. So ist das auch mit der Pandemie, könnte man sagen. Das ist eine Zeit, in der wir lernen können, es besser mit unserer Zeit auszuhalten.

 Nach Corona, wann auch immer und wie auch immer dieses "danach" kommt – werden wir dann anders mit unserer Zeit umgehen?

Das ist jetzt ein Blick in die Kristallkugel. Aber der Mensch ist ja sehr adaptiv, ein Beispiel dafür ist das Händeschütteln. Ich habe die ersten Wochen in der Pandemie immer Hände schütteln wollen, weil das so ein Automatismus ist. Innerhalb von kurzer Zeit ist es jetzt aber normal geworden, dass wir keine Hände mehr schütteln. Ob dieser Automatismus, der ja eine ganz wichtige soziale Funktion hat, je wieder zurückkommt? Ich könnte mir vorstellen, dass solche Kontaktformen generell abnehmen werden.

Wie viel unserer wachen, bewussten Zeit sind wir überhaupt in der Gegenwart? Wie viel in der Zukunft? Wie viel in der Vergangenheit?

Studien haben gezeigt, dass wir tatsächlich im Durchschnitt mehr in der Zukunft oder in der Vergangenheit sind als tatsächlich im Hier und Jetzt in meiner Tätigkeit. Vor allem Leute, die vermehrt Probleme haben mit Angstzuständen, öfters deprimiert sind, die erleben noch stärker dieses so genannte Gedankenschweifen.

 Welche Zeit-Perspektive macht mich denn am glücklichsten: Die Zukunft? Die Vergangenheit oder die Gegenwart? Kann man das so sagen?

Wenn ich viel in einer Zukunfts- oder Vergangenheitsperspektive verharre, dann geht‘s mir schlechter als wenn ich im Hier und jetzt bin. Das sind eindeutige Befunde. Meine ganzen Probleme mit der Arbeit, mit der Partnerin, wer permanent diese Probleme wälzt, hat keine Präsenzerfahrung. Klar kann man sich den nächsten tollen Urlaub mit dem Partner oder Partnerin vorstellen, frisch verliebt und super positiv. Oder es kann auch ein positives Zurückschauen sein auf die Schulzeit. Dennoch ist es im Durchschnitt eher so, dass wir die negativen Aspekte mehr sehen als die positiven, wenn wir aus der Präsenzerfahrung gehen.

 Nehmen wir denn so allgemein gesprochen unsere Zeit anders wahr als jetzt noch die Eltern oder die Großeltern? Gibt es quasi Untersuchungen über das Zeitempfinden über die Generationen hinweg.

Kaum. Denn wenn wir es methodisch richtig machen wollten, müsste man Längsschnittartig arbeiten, man müsste dieselben Fragen immer wieder über Generationen hinweg einsetzen. Und bei den kurzfristigen Verträgen, die Wissenschaftler haben, wenn sie jung sind, ist das nicht möglich. Da muss man dann seine Dinge innerhalb von drei Jahren zusammengeschrieben haben.

 Die Zeitforschung leidet an einem Zeitproblem, sozusagen.

Ja, jegliche Forschung leidet an demselben Zeitproblem auch die Zeit-Forschung natürlich. Aber die Erkenntnisse des Soziologen Hartmut Rosa, dass alle Dinge immer schneller passieren, dass Informationen schneller fließen, sich das Reisen beschleunigt hat, Arbeitsprozesse schneller geworden sind, sind ja unbestreitbar. Zusammen mit der Belastung, dem Druck, dem Burn-out und anderen Belastungsreaktion, die wir heute diskutieren. 

 Sind wir Deutschen schneller ungeduldig als andere? Ist der Münchner schneller ungeduldig als der Freiburger oder der Hamburger? Gibt's da unterschiedliches Zeitempfinden?

Es leben inzwischen so viele Hamburger in München, so viele Münchner in Hamburg und ich als Münchner bin in Freiburg – schwierig, da Aussagen zu machen. Auf jeden Fall ist es so, dass Stadtbewohner schneller leben als Landbewohner, dass Stadtbewohner eher ungeduldig sind als Landbewohner. In den Industrienationen der nördlichen Hemisphäre laufen viele Prozesse schneller ab als in den Ländern der südlichen Hemisphäre. Je mehr Industrialisierung, je mehr Fortschritt, je mehr Modernisierung, desto schneller laufen die Dinge und – wie der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine erfoscht hat - desto schneller handeln die Menschen und sind genauer mit ihren Zeitbewertungen.

 Empfehlen Sie zu beten – so als Warte- und Zeitberater?

Das liegt ja an der Person. Wer religiös oder spirituell ist und somit dem Beten gegenüber positiv eingestellt ist, für den ist jede Form von spiritueller Einkehr, ob Beten oder Meditation, immer gut. Bei Meditation und Spiritualität denkt man ja schnell an Buddhismus und Meditation und Yoga und alle anderen möglichen Dinge, die so im südostasiatischen Großraum angesiedelt sind. Aber auch der Rosenkranz ist psychologisch betrachtet nichts anderes als eine indische Mantra-Meditation: Ich unterdrücke meine Gedanken, meine Rumination durch die Wiederholung der immergleichen Worte.

 Und was passiert dann so in unserem Körper?

Was wir feststellen können, ist zum Beispiel die Atemfrequenz – die wird langsamer. Die Herzfrequenzvariabilität wird größer, der Parasympatikus, das System, das einen in die Entspannung bringt, schlägt an.

Herr Dr. Wittmann, wenn Sie so einen Wunsch frei hätten als Forscher, was würden Sie gerne wissen über die Zeit, was Sie noch nicht wissen?

Die große Frage ist immer noch, wie wir zu unserem Gefühl von Zeit kommen. Wie erlebe ich die Zeit, wie kann ich sie überhaupt einschätzen? Wir wissen, dass der Hippocampus im Gehirn wichtig ist für das Gedächtnis von Raum. Möglicherweise haben die Neuronen dort auch etwas mit der Zeit zu tun – denn wenn ich mich im Raum bewege, bewege ich mich ja auch immer in der Zeit. Meine Theorie ist außerdem, dass über Teile der Inselrinde die Zeitwahrnehmung über Körperwahrnehmung im Allgemeinen stattfindet. Aber da gibt's noch keinen Konsens, wenn Sie fünf Forscher fragen, die dazu arbeiten, bekommen sie fünf verschiedene Antworten –mindestens.

Wie souverän gehen Sie – als jemand, der sich viel mit Zeit beschäftigt – mit Ihrer Zeit um?

Es ist nicht so, dass ich durch mein Spezialwissen über die Zeit damit besser zurechtkomme als andere, ich glaube sogar, dass es viele Leute gibt, die viel besser mit Stress und Arbeitsdruck umgehen können als ich. Aber ich habe das Glück, dass ich sehr selbstbestimmt arbeiten kann. Das ist ja genau das Problem von Menschen im Arbeitsalltag: Die klassischen Hausmeister in einer Wohnanlage, die haben ganz klar ihr Zeitbudget und müssen da dieses und jenes machen – aber sonst sind bezogen auf die Zeit klar ausgerichtet. Die CEOs, die 16 Stunden am Tag hart arbeiten, sind häufig eher entspannt – denn die mögen sowas von ihrer Persönlichkeit her. Aber die armen Würste in der Mitte, die in den Sandwichpositionen, die Ansagen von oben bekommen, die erleben ihre Zeitsouveräntität als stark eingeschränkt. Und zeigen am meisten  Stress-Reaktionen.

Sie sind da quasi eher der Hausmeister-Typ?

Im Sinne des Zeitbudgets absolut! Zum Glück!

Ich habe die Dinge, die ich Sie fragen wollte, im Großen und Ganzen besprochen. Das heißt, wir haben noch einiges an Zeit übrig im Vergleich zu dem, was wir eingeplant hatten. Was machen Sie jetzt mit der Zeit?

Entweder Sie füllen die Zeit noch und stellen mir weitere Fragen, das ist ja Ihr Beruf, da bin ich nun entspannt mit der Zeit. Oder wir ratschen einfach noch ein wenig. 

Dr. Marc Wittmann lehrt und forscht als Psychologe und Humanbiologe am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene Freiburg zu psychologischen und neuronale Mechanismen der Zeitwahrnehmung. Von ihm stammen unter anderem die Bücher »Gefühlte Zeit: Kleine Psychologie des Zeitempfindens« (Beck Paperback 6070) und »Wenn die Zeit stehen bleibt« (Beck Paperback 6194), sein Blog Blog »Sense of Time« ist auf Psychology Today nachzulesen. Ein sehr sehens- und hörenswerter Vortrag von ihm ist bei der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie zu klicken. Eine gekürzte Fassung dieses Gespräches ist in der Welt erschienen.

Wenn Sie mehr wissen wollen

Hier einige Angebote von mir, wenn Sie mehr von mir zu positive Leadership hören, lesen, wissen, erleben wollen:

🎧 In der aktuellen Folge meines Podcasts „Positiv Führen“ geht es um Positive Leadership bei LIDL Österreich. (Der Podcast und ich freuen uns übrigens über Abos und freundliche Bewertungen!)

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🖥 Natürlich stehe ich für Online-Coachings zur Verfügung – meine Auftakt-Sitzungen sind kostenlos.

Mit positiven Grüßen

Christian Thiele

P.S.: Sie machen das gut!

Christian Thiele: „Positiv führen in schwieriger Zeit“ (Haufe Verlag, Mai 2020)

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Christian Thiele

ÜBER DEN AUTOR

Mehr Leistung, Freude, Gesundheit und Sinn, mit den Methoden der Positive Leadership: Darum geht es mir in meiner Arbeit als Coach, Trainer, Teamentwickler und Vortragsredner. Für Führungskräfte, Teams und Organisationen. Verliebt, verlobt und bald verheiratet mit Christiane. Vater. Skitourengeher.

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